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Der Film "Der Club der toten Dichter" im Pädagogik-Unterricht - Kapitel 3.1-3.3

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Der Film "Der Club der toten Dichter" im Pädagogik-Unterricht
Kapitel 2
Kapitel 3.1-3.3
Kapitel 3.3-3.5
Kapitel 4.1-4.2
Kapitel 4.3-4.4
Kapitel 5-6
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‘Der Club der toten Dichter’ aus pädagogischer Sicht (3)

 

Traditionelle Eröffnungsbotschaft des

‚Clubs der toten Dichter’

Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben,

intensiv leben wollte ich, das Mark des Lebens in mich aufsaugen,

um alles auszurotten, was nicht Leben war,

damit ich nicht in der Todesstunde innewürde,

daß ich gar nicht gelebt hatte.

Henry David Thoreau     (gekürzt, aus: ‚Excerpt from Walden’)

 In diesem Abschnitt soll der Film ‚Der Club der toten Dichter’ aus pädagogischem Blickwinkel inhaltlich analysiert werden. Dazu werden vier inhaltliche Themen herausgegriffen und in den folgenden vier Abschnitten exemplarisch betrachtet. Abschließend liefert Abschnitt 3.5 ein kurzes Zwischenfazit, in dem die inhaltlichen Themen unter dem Aspekt der pädagogischen Verantwortung zusammengeführt werden.

 

Der Lehrer im Spannungsfeld zwischen Institution, Schülern und Eltern
oder: Die Frage nach der ‚Schuld’ an Neils Selbstmord (3.1)

In diesem Abschnitt sollen zwei zentrale Fragen eingehend behandelt werden: Zum einen: Wie ist es zu Neils Selbstmord gekommen und welche Faktoren können diesbezüglich identifiziert werden? Zum zweiten: Wer trägt letztendlich die Verantwortung für Neils Selbstmord?

Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst das Spannungsfeld, in dem Neil sich befindet, genau betrachtet werden: Dieses wird zum einen durch seine Liebe zum Theater (in bezug auf seine eigenen Wünsche) sowie durch das Anstreben eines sehr guten Schulabschlusses und anschließendes Medizinstudium (in bezug auf die Wünsche seines Vaters) charakterisiert. Diese beiden unterschiedlichen Wünsche sind miteinander nicht vereinbar und haben somit ein grundsätzliches Dilemma für Neil zur Folge, da dieser die Situation nicht entschärfen kann, indem er beispielsweise seine Gefühle vor seinem autoritären Vater zum Ausdruck bringt. Der Handlungsverlauf, durch den Neil in diese Zwickmühle gerät, ist folgendermaßen charakterisiert: Sowohl Neil als auch sein Vater sind autoritär erzogen worden. Neil gibt seinem Vater in allen Konfliktsituationen nach und versucht, seine Enttäuschungen innerlich zu verarbeiten. Mit dem Auftreten von Keating und der schrittweisen Internalisierung dessen romantischer Lebensphilosophie entsteht für Neil ein zunehmendes Spannungsverhältnis zwischen der augenblicklichen Situation und seinen eigenen Wünschen. Diese Situation wird durch folgende Schritte verschärft: Zunächst fälscht Neil eine Erlaubniserklärung seines Vaters, um die Rolle des ‚Puck’ überhaupt zu bekommen. Als sein Vater erfährt, daß Neil mit dem Theaterspielen begonnen hat, verbietet er Neil dasselbe in drastischer Weise. Neil nimmt trotzdem weiter an den Proben Teil. Mit der herannahenden Premierevorstellung rückt der Konflikt mit seinem Vater immer näher, bis er schließlich unausweichlich wird. Einen Abend vor der Theaterpremiere sucht Neil daher Rat bei Keating. Der Dialog zwischen beiden wird im folgenden näher analysiert:  

Text 1
Keating: (in seinem Arbeitszimmer) „Was gibt`s?“
Neil: „Ich habe eben mit meinem Vater gesprochen. Er hat mir das Theaterspielen untersagt. ... Aber das Theater bedeutet mir alles! ... Ich mein` ... aber er ... er weiß es nicht. Na ja, ich kann seinen Standpunkt gut verstehen. Wir sind nicht so reich wie Charlies Eltern, aber mein Vater ... verplant mein ganzes Leben und ich ... Er ... er hat mich nie gefragt, was ich will!“
Keating: „Haben Sie das Ihrem Vater auch so gesagt wie mir? Ich meine, was Ihre Leidenschaft für`s Theater betrifft. Haben Sie ihm das klargemacht?“
Neil: „Ich kann`s nicht!“
Keating: „Warum nicht?“
Neil: „Weil ich so mit ihm nicht sprechen kann!“
Keating: „Dann spielen Sie ihm was vor! Sie spielen vor ihm die Rolle des gehorsamen Sohnes. Ich weiß, das klingt unmöglich, aber Sie müssen mit ihm reden! Sie müssen ihm zeigen, wer Sie sind und woran Ihr Herz hängt.“
Neil: „Ich weiß, was er sagt. Die Schauspielerei ist`ne vorübergehende Laune, die ich vergessen soll.“ (den Tränen nahe) „Sie rechnen mit mir. Zu meinem eigenen Besten soll ich`s mir aus dem Kopf schlagen.“
Keating: „Neil, Sie sind doch kein Leibeigener Ihrer Eltern! Und daß es keine Laune ist, können Sie Ihrem Vater beweisen, indem Sie ihn überzeugen und begeistern! Machen Sie`s ihm klar! Und wenn er`s dann immer noch nicht glauben will – nun ja -, bis dahin sind Sie mit der Schule fertig und können tun, was Sie wollen!“
Neil: (schluchzt) „Und was wird aus dem Stück? Morgen abend ist Premiere!“
Keating: „Dann werden Sie vorher noch mit ihm reden müssen!“
Neil: (weint) „Äh ... Gibt es keinen leichteren Weg?“
Keating: „Nein!“
Neil: „Ich sitz` in der Falle!“
Keating:  „Nein, bestimmt nicht!“
Keating: (am folgenden Tag nach der Unterrichtsstunde) „Haben Sie Ihren Vater gesprochen?“
Neil: (freudig) „Ja ... gefallen hat`s ihm nicht, aber wenigstens läßt er mich mitspielen. Er ... er wird zwar nicht kommen können, denn er ist in Chicago, aber ich denke, er läßt mich weiterspielen!“
Keating: „Wirklich? ... Haben Sie ihm dasselbe wie mir gesagt?“
Neil: (lächelnd) „Ja! ... Glücklich war er zwar nicht, aber er ist für wenigstens vier Tage weg.“ (flüstert) „Ich glaube nicht, daß er sich die Aufführung ansieht, aber ... er läßt mich sicher weitermachen. ... Die Schule hat Vorrang!“ (den Tränen nah) „Danke!“ (geht hinaus; Keating bleibt nachdenklich zurück)

Im Gegensatz zu seinem Vater kann Neil Keating seine Gefühle mitteilen. Keating analysiert und durchschaut das Verhalten von Neil und seinem Vater („Dann spielen sie ihm was vor! Sie spielen vor ihm die Rolle des gehorsamen Sohnes.“). Keating versucht, Neil Hoffnung zu machen („Nun ja, bis dahin sind Sie mit der Schule fertig.“), verdeutlicht ihm jedoch, daß er das Gespräch mit seinen Eltern suchen muß (vgl. Text 1).

Im zweiten Teil des unter Text 1 wiedergegebenen Gesprächs belügt Neil seinen Lehrer Keating am darauffolgenden Tag, indem er ihm erklärt, er habe mit seinem Vater gesprochen und dieser ließe ihn weiterspielen. Keating ahnt diese Lüge zumindest, was daran deutlich wird, daß der mit ungläubigem Tonfall ein „Wirklich?“ murmelt; er geht jedoch im Gespräch nicht weiter auf diese vermeintliche Lüge ein. In der nachträglichen Beurteilung von Keatings Lehrerverhalten kann ihm an dieser Stelle ein grober Fehler nachgewiesen werden. Hätte Keating an dieser Stelle interveniert, wäre die Katastrophe und somit Neils Selbstmord unter Umständen vermeidbar gewesen.

Zur Klärung der Frage nach der pädagogischen Verantwortung an Neils Tod sind daher zumindest folgende drei Faktoren zu berücksichtigen:

·        Die Selbsttötung war letztendlich Neils eigene Entscheidung auf Grund einer für ihn unerträglichen Situation. Seine Angst, auf eine Militärakademie geschickt zu werden, sowie die Enttäuschung über das schnelle Ende seiner Theaterkarriere führten bei Neil zu Panik und schließlich zur Kurzschlußhandlung der Selbsttötung.

·        Eine Teilschuld liegt in jedem Falle bei Neils Vater. Sein autoritäres Verhalten und der Druck, Neil auf eine Militärakademie zu schicken, sind der Auslöser für Neils Selbstmord.

·        Eine weitere Teilschuld liegt jedoch auch bei Keating, da Intervention von seiner Seite aus möglich gewesen wäre (s. o.). Zudem ist zu berücksichtigen: Wäre Keating nicht nach Welton gekommen, hätte Neil niemals die Chance erhalten bzw. wäre Neil niemals in die Situation geraten, dessen romantische Ideen zu verinnerlichen. Die sich daran anschließende Frage, ob sein ‚innerer Druck’ auf Grund des oben beschriebenen Spannungsverhältnisses dennoch irgendwann so groß geworden wäre, daß eine Katastrophe unvermeidbar geworden wäre, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.

Abschließend sind zwei weiterführende Fragen kurz anzusprechen; zum einen: In welcher Art und Weise wird Keatings Lehrerrolle durch sein Verhalten in die dieser Situation charakterisiert? Keating befindet sich ebenfalls in einem Spannungsverhältnis: Er versucht, den Anforderungen der Institution Schule (Vermittlung von Unterrichtsinhalten), seinen Schülern (eigener Anspruch, diese zu individuellen Persönlichkeiten zu erziehen) sowie den Ansprüchen der Eltern (Erfüllung der Rahmenbedingungen von Schule, gute Noten, gute Abschlüsse) gerecht zu werden, konzentriert sich schwerpunktmäßig jedoch auf seine Schüler. Er versucht, diesen seine romantischen Lebens­ideale zu lehren, ohne zu berücksichtigen, daß dieselben in Konflikt mit den institutionellen Rahmenanforderungen geraten können.

Zum anderen ist zu fragen, ob die Weitergabe seiner romantischen Lebensideale seitens Keatings nur bei Neil in eine Katastrophe mündet? Wäre diese Frage zu bejahen, könnte der Selbstmord Neils als Einzelfall gewertet werden. Die Internalisierung von Keatings romantischen Lebensideale zeigt jedoch auch bei anderen Schülern katastrophale Auswirkungen, was sich beispielsweise daran zeigt, daß Charlie einen Schulverweis riskiert (eine eingehende Betrachtung dieses Problemzusammenhangs erfolgt in Abschnitt 3.4).

Die Diskussion dieser drei Faktoren sowie der Einfluß der Lebensphilosophie Keatings macht deutlich: Die Frage nach der Schuld an Neils Selbstmord kann nicht endgültig geklärt wären, liefert jedoch Anregungen und Ansatzpunkte für Diskussion - beispielsweise im UFP-Unterricht.

Das Schüler-Lehrer-Verhältnis
oder: Balanceakt zwischen Nähe und Distanz (3.2)

Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die sich in ihrem Unterricht schwerpunktmäßig auf die Aufgabe des Unterrichtens als Vermittlung von Inhalten beschränken und somit die Anforderungen der Welton-Institution voll erfüllen, versucht der neue Englischlehrer John Keating den Schülern seine auf Romantik und dem Wahlspruch ‚Carpe diem!’ basierende Lebensphilosophie zu vermitteln. Aus heutiger Sicht und der Perspektive des deutschen Bildungswesens läßt sich Keating als Lehrer betrachten, der viele der Aufgabenbereiche abdeckt, die vom Deutschen Bildungsrat 1970 benannt wurden (vgl. Deutscher Bildungsrat 1970, S. 217 - 220). Keating versucht, seine Schüler zu Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung sowie Emanzipation zu erziehen, Neil bei seinen Problemen mit seinem Vater zu unterstützen (Beratungsfunktion) sowie beispielsweise im Gespräch mit dem Lehrer McAllister seine Ideen weiterzugeben (vgl. 3.4). Sein Repertoire an neuen innovativen Unterrichtsmethoden (Innovationsfunktion) scheint unerschöpflich (vgl. 3.3). In welcher Weise Keating in seinem Unterricht auch den Funktionen des Unterrichtens und Beurteilens nachkommt, läßt sich an dieser Stelle nicht weiter analysieren, da es im Film kaum eine Szene gibt, in der Keating Lerninhalte vermittelt oder Noten verteilt. Es läßt sich jedoch zusammenfassen, daß Keating die Anforderungen eines Lehrers nach den heutigen Maßstäbe erfüllt.

Die Erwartungen der Welton-Institution in den sechziger Jahren des amerikanischen Bildungswesens beschränken sich im Film jedoch auf die Vermittlung von Unterrichtsinhalten mit dem Ziel, die Schüler auf dem Besuch von Elite-Universitäten vorzubereiten. Es überrascht daher nicht, daß Keating sowie seine Schüler mit diesen institutionellen Erwartungen immer mehr in Konflikt geraten. Dieser Rollenkonflikt auf Seiten des Lehrers und der Schüler mündet zudem in problematische Situationen zwischen denselben: Da Keating besonders das Erziehen und Beraten in den Vordergrund stellt und zudem im Vergleich zu seinen Kollegen einen weniger autoritären Erziehungsstil benutzt, entwickelt sich zwischen Keating und seinen Schülern schnell ein Schüler-Lehrer-Verhältnis, das von Freundschaft und gegenseitiger Anerkennung bestimmt ist. Bei einigen Schülern, die Keatings Lebensphilosophie besonders stark internalisieren, wie beispielsweise die Mitglieder des ‚Clubs der toten Dichter’, führt dies schnell zu Bewunderung und Verehrung. Diese gipfelt in einer Szene, in der Keating beim Sportunterricht von einigen seiner Schüler auf Händen getragen wird. Im Film wird diese Szene mit Beethovens Musik ‚Ode an die Freude’ („Freude schöner Götterfunken „) untermalt.

Betrachtet man die Schüler-Lehrer-Beziehung unter dem Aspekt des pädagogischen Bezugs, läßt sich feststellen, daß Schüler-Lehrer-Beziehungen in einem Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz anzusiedeln sind. Problematisch sind in diesem Zusammenhang extreme Ausdrucksformen bezüglich dieses Spannungsfeldes, die besonders im ‚Club der toten Dichter’ auftauchen: Die Schüler-Lehrer-Beziehungen zwischen den Schülern und den Lehrern der Welton-Akademie (mit Ausnahme von Keating) sind durch große Distanz gekennzeichnet. Unterricht wird beschränkt auf Wissensvermittlung. Erziehung beschränkt sich auf Ermahnungen und Anweisungen. Die Beziehung zwischen Keating und seinen Schülern ist jedoch geprägt von gegenseitiger Achtung, Anerkennung und „Liebe“, somit von „extremer“ Nähe im Vergleich zu den übrigen Lehrern. Dies kommt besonders in der Szene zum Ausdruck, in der Keating Todd von seinen Selbstzweifeln befreit (diese Szene wird im folgenden Abschnitt 3.3 eingehend analysiert): Keating berührt Todd mehrmals an Hals und Nacken, hält ihm die Augen zu und dreht ihn im Kreis. Er fiebert regelrecht mit bei den kleinsten Lernschritten seiner Schüler. Unter filmanalytischer Perspektive wird jedoch auch die Grenze der Dokumentation dieser Schüler-Lehrer-Beziehung durch den Film deutlich, wenn man beispielsweise versucht,

„den Einfluss der Produktionsfirma Touchstone, einer Tochter des Disney-Konzerns, auf den Film deutlich zu machen: Es ist kein Zufall, dass der Film sich peinlich genau bemüht, jeden auch nur vagen Anschein einer homoerotischen Komponente im Verhältnis von John Keating zu seinen ihn anhimmelnden Schülern gar nicht erst aufkommen zu lassen“ (Schreckenberg 1997, S. 108).

Ungeachtet dessen, wie tiefgehend die Beziehung zwischen Schülern und Lehrer in diesem Zusammenhang wirklich ausfällt, bleibt aus pädagogischer Sicht herauszustellen, daß die Beziehung zwischen Keating und manchen seiner Schüler von derart extremer Nähe und Bewunderung geprägt ist, daß Konflikte vorprogrammiert werden: Die emotionale Nähe zwischen Keating und den Mitgliedern des ‚Clubs der toten Dichter’ führt zu unhinterfragter Internalisierung von Keatings Lebensphilosophie und somit zu den im vorigen Abschnitt dargestellten Folgen.

Desweiteren können Lehrer nicht einfach nur gute Freunde der Schüler sein. Spätestens bei der Notenvergabe hat der Lehrer eine objektive Betrachtungsposition einzunehmen, ungeachtet emotionaler Beziehungsaspekte. Die Vermeidung diesbezüglicher Problemkonstellationen zur Herstellung eines extrem emotionalisierten Schüler-Lehrer-Verhältnisses kann ein Grund dafür sein, daß Keating im Film niemals bei der Aufgabe des Beurteilens dargestellt wird.




 

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